
Kaffee-Dossier

„Wer hungert, akzeptiert Brot als Bezahlung“
Interview mit der Juristin Fernanda Drummond Pinheiro über Sklavenarbeit im brasilianischen Kaffeesektor
Moderne Sklaverei auf brasilianischen Kaffeeplantagen nimmt zu. Die bestehenden Gesetze reichen nicht aus, um die Situation zu verbessern. Doch es gibt auch Hoffnung auf Fortschritte.
Die Entwicklung Brasiliens zum größten weltweiten Kaffeeexporteur basiert auf weit verbreiteter Sklavenarbeit, die in der Kolonialzeit begann. Wie sehen die Arbeitsbedingungen auf den Kaffeeplantagen heute aus?
Die Situation ist sehr schlecht. Die häufigsten Verstöße sind missbräuchliche Lohnabzüge, illegale Gebühren, Unterbezahlung, Zahlungsverzögerungen oder gar keine Zahlung. Am schwerwiegendsten sind überlange Arbeitszeiten. Wir haben Arbeiter*innen, die von sechs Uhr morgens bis spät abends oder nachts auf der Plantage sind. Manchmal beschlagnahmen sie deren Personaldokumente, damit sie nicht gehen können.
Ist moderne Sklaverei ein wachsendes Problem auf brasilianischen Kaffeeplantagen?
Die Zahlen steigen. In den letzten drei bis vier Jahren haben wir mehr als tausend Arbeiter aus der Sklaverei befreit. Der Kaffeesektor ist in Brasilien damit der Bereich mit der höchsten Zahl an Versklavten in den letzten Jahren. Die Menschen befinden sich in einer so schwierigen Situation, dass sie an Arbeitsversprechen glauben, die nicht wahr sind. Wer Hunger leidet, ist bereit, Brot als Bezahlung zu akzeptieren.
Hat es auf den Kaffeeplantagen Fortschritte bei der Zahlung von Mindestlöhnen oder existenzsichernden Löhnen gegeben?
Nein, nicht wirklich. Wir haben zwar einen staatlichen Mindestlohn. Aber im Kaffeesektor ist es schwierig, ihn durchzusetzen. Denn die meisten Arbeiter*innen haben nur Saisonverträge und manchmal haben sie gar keine formellen Verträge. Existenzsichernde Löhne gibt es nicht, davon sind wir weit entfernt.
In Brasilien gibt es die sogenannte Schmutzige Liste (lista suja). Was bedeutet diese und welche Erfahrungen wurden damit gemacht?
Die lista suja ist eines der Instrumente, auf die wir sehr stolz sind. Wenn die Arbeitsaufsichtsbehörden einen Fall von Sklaverei entdecken, können sie Geldstrafen gegen die Landwirt*innen verhängen. Es handelt sich dabei nicht um ein Gerichtsverfahren, sondern eine administrativ verhängte Geldstrafe. Wenn der Fall als Sklaverei bestätigt wird, nehmen die Behörden den Namen des Unternehmens für mindestens zwei Jahre auf diese Liste auf und führen Kontrollen durch. Wer keine Fälle von Sklaverei mehr aufweist, wird wieder gestrichen. Einige Banken verwenden diese Liste, um über die Vergabe von Krediten zu entscheiden.
Viel brasilianischer Kaffee geht nach Deutschland und Europa. Wie wahrscheinlich ist es, dass der Kaffee, den wir trinken, aus moderner Sklaverei stammt?
Das ist sehr wahrscheinlich. Denn die große Mehrheit der Unternehmen kann keine Rückverfolgbarkeit ihrer Lieferanten gewährleisten. Diese kaufen den Kaffee von den Bauern, mischen ihn und verkaufen ihn dann an die großen Unternehmen. Ein Teil ist also in Ordnung, aber manchmal kaufen sie auch von Landwirt*innen, die mit Sklaverei arbeiten. Es handelt sich also um kontaminierten Kaffee.
Was sollten europäische Unternehmen tun, um moderne Sklaverei in den Lieferketten zu bekämpfen?
Eine bessere Rückverfolgbarkeit oder Transparenz würde helfen. Denn dadurch könnten wir feststellen, woher der Kaffee kommt. Auch ist wichtig, einen Dialog mit den Gewerkschaften und der Zivilgesellschaft zu führen, um die größten Probleme in diesem Bereich zu verstehen. Die Unternehmen glauben immer noch, dass Audits oder Zertifizierungen ausreichen, um ihren Kaffee zu schützen. Das stimmt aber nicht.
Warum reicht das nicht aus?
Wir haben in den letzten Jahren viele Probleme mit Farmer*innen, die alle Zertifizierungen und eine Menge Audits vorweisen können. Das ist also keine Garantie. Der Kontakt zu Organisationen und Gewerkschaften vor Ort kann diesen Unternehmen mehr Informationen darüber liefern, was diese Landwirt*innen nicht sagen oder verschweigen. Zu Beginn des Jahres haben wir mit einigen Kleinbauern und -bäuerinnen gesprochen. Sie beklagen sich zum Beispiel darüber, dass sie ihren Arbeiter*innen manchmal keine besseren Bedingungen bieten können, obwohl sie gerne bessere Löhne zahlen würden. Aber die großen Unternehmen bezahlen sie nicht gut. Es ist also schwierig für sie, in einem Szenario zu konkurrieren, in dem die großen Unternehmen die Preise kontrollieren.
Wie beurteilen Sie die gesetzlichen Sorgfaltspflichten im Bereich der Menschenrechte in Europa? Insbesondere im Hinblick auf das Problem, dass die Unternehmen nicht genug für den Kaffee bezahlen – was sollte Ihrer Meinung nach getan werden?
Mit den neuen Gesetzen sehen wir einige Veränderungen. Die Landwirte machen sich mehr Sorgen, dass sie ihre Abnehmer in Europa verlieren. Da sie wissen, dass die Unternehmen sich um die neuen Gesetze kümmern müssen, findet ein Mentalitätswandel statt. Aber wir wollen nicht, dass die großen Unternehmen nur sagen: „Lasst mich sehen, ob ihr alles richtig gemacht habt, oder wir nehmen euch keine Ware mehr ab.“ Denn das würde die Arbeiter am meisten treffen.Die Unternehmen sollten uns helfen, die Bedingungen zu ändern. Der erste Schritt dazu wäre, einen Mindestpreis für den Kaffee zu zahlen. Das würde den Kleinbauern helfen.
Die Unternehmen müssen Beschwerdemechanismen einrichten. Welche Rolle spielen diese dabei, moderne Sklaverei oder andere Probleme aufzudecken?
Bei den meisten dieser großen Unternehmen sind die Beschwerdemechanismen für die Arbeiter*innen nicht sehr zugänglich. Manchmal gibt es sie nur auf Englisch, Französisch oder Deutsch, meistens auf Englisch. Viele Arbeiter*innen wissen nicht einmal, dass es diese Mechanismen gibt, weil sie nicht sehr weit verbreitet sind. Ein weiteres Problem ist, dass sie nicht wissen, für welchen Farmer sie arbeiten oder an welches Unternehmen der Landwirt den Kaffee verkauft. In den meisten Fällen wenden sie sich also an die Gewerkschaften oder nutzen die in Brasilien üblichen oder gesetzlichen Mechanismen.
Gibt es auch positive Aussichten für die Arbeitsbedingungen im Kaffeeanbau in Brasilien?
Der Kaffeesektor ist eine der Prioritäten der Regierung. Wir sehen eine Menge Bewegung und viele Kontakte zwischen der Bundesregierung sowie den Bauern und -bäuerinnen sowie Gewerkschaften. Aber es muss viel passieren.
Das Interview führten Mireille Remesch und Julia Sievers.

Es geht um die Rechte der Menschen
Auch im Kaffeeanbau sind gesetzliche Verpflichtungen notwendig, um existenzsichernde Preise zu erreichen
Beim Geschäft mit dem Kaffee werden Milliarden verdient. Doch die Mehrheit der kleinbäuerlichen Produzent*innen in den Anbauländern lebt in Armut. Das deutsche Lieferkettensorgfaltspflichtengesetz und die Lieferkettenrichtlinie der EU sind erste Schritte, um die schwersten Missstände im Kaffeeanbau anzugehen. Um existenzsichernde Einkommen in den Anbauländern zu erreichen, werden aber weitere Regulierungen benötigt.
Die Kaffeebranche steht vor einer großen Aufgabe: Sie muss endlich dafür sorgen, dass die Menschenrechte auf eine existenzsichernde Entlohnung und auf einen angemessenen Lebensunterhalt der Menschen, die vom Kaffeeanbau leben, verwirklicht werden. Es sind Rechte, die in Artikel 23 der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte und in Artikel 7 des Internationalen Paktes über wirtschaftliche, soziale und kulturelle Rechte verankert sind. Von der Umsetzung dieser Rechte ist die Kaffeebranche allerdings noch weit entfernt: Ein Großteil der etwa 125 Millionen Menschen, die weltweit im Anbau und in der Verarbeitung von Kaffee arbeiten, lebt in Armut. Einkommen und Löhne sind in der Regel so niedrig, dass davon die Sicherung existenzieller Bedürfnisse nicht möglich ist. Immerhin sind Unternehmen seit Kurzem gesetzlich zu Sorgfaltspflichten für den Schutz von Menschenrechten in ihren Lieferketten verpflichtet. Dies regelt seit Januar 2023 das deutsche Lieferkettensorgfaltspflichtengesetz und zukünftig auch die europäische Lieferkettenrichtlinie (CSDDD), die am 25. Juli 2024 in Kraft getreten ist und innerhalb von zwei Jahren in deutsches Recht umgesetzt werden muss. Unternehmen in der EU haben allerdings noch einige Jahre Zeit, sich vorzubereiten. Ab 2027 müssen Unternehmen mit mehr als 5.000 Mitarbeiter*innen oder mehr als 1,5 Milliarden Euro Umsatz die gesetzlichen Verpflichtungen erfüllen. Erst 2029 gelten die Verpflichtungen auch für Unternehmen mit mehr als 1.000 Mitarbeiter*innen und einem Mindestumsatz von 450 Millionen Euro. Die CSDDD ist ein hart erkämpfter und aufgrund des Drucks verschiedener Seiten – insbesondere der FDP – abgeschwächter Kompromiss. Und doch sind die neuen gesetzlichen Verpflichtungen ein Fortschritt, auch im Hinblick auf das Ziel, angemessene Löhne und Einkommen im Kaffeeanbau voranzubringen. Das deutsche Lieferkettengesetz sieht vor, dass Unternehmen für angemessene Löhne in ihren Lieferketten sorgen müssen und verpflichtet sie dazu, ihre Einkaufspraktiken zu überprüfen. Was ein angemessener Lohn ist, konkretisiert das Gesetz jedoch nicht ausreichend – es werden lediglich Mindestlöhne als Anhaltspunkt genannt. Und dies, obwohl allgemein bekannt ist, dass Mindestlöhne in vielen Ländern so niedrig angesetzt sind, dass sie keine Existenzsicherung und keinen angemessenen Lebensstandard im Sinne der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte ermöglichen. Die europäische CSDDD geht da einen Schritt weiter – sie regelt, dass Unternehmen zukünftig nicht nur für existenzsichernde Löhne der Arbeiter*innen auf Kaffeeplantagen Sorge tragen müssen, sondern auch für existenzsichernde Einkommen der Kaffeeproduzent*innen.
Existenzsichernde Löhne und Einkommen sind die Ausnahme
Das Konzept der existenzsichernden Einkommen und Löhne sieht vor, dass länderspezifisch ermittelt wird, wie viel Einkommen ein Haushalt mindestens benötigt, um ein menschenwürdiges Leben führen zu können. Einberechnet werden die lokalen Preise für die minimale Befriedigung von Grundbedürfnissen wie Nahrung, Wohnen, Kleidung, Bildung, Transport und Gesundheit. Es wird unterschieden zwischen existenzsichernden Löhnen für abhängig Beschäftigte und existenzsichernden Einkommen für Selbständige (z.B. Kleinbauern). Aktuell weichen die realen Einkommen und Löhne im Kaffeeanbau noch stark von den für die einzelnen Länder berechneten existenzsichernden Löhnen und Einkommen ab. Eine Studie des Columbia Center on Sustainable Investment hat die Einkommen im Kaffeeanbau in zehn Ländern untersucht und zeigt, dass nur in Brasilien das durchschnittliche Produzenteneinkommen existenzsichernd ist. In allen anderen untersuchten Ländern liegt das durchschnittliche Einkommen deutlich unter einem existenzsichernden Niveau, was zum Beispiel in Uganda besonders dramatisch ist: Während Kaffeeproduzent*innen in Uganda durchschnittlich 88 US-Dollar pro Jahr verdienen, liegen existenzsichernde Einkommen je nach Berechnungsmethode zwischen 2.000 und 6.000 US-Dollar pro Jahr. In acht der zehn untersuchten Kaffeeanbauländer lag das Einkommen auf oder unterhalb der Armutsgrenze. Einige Unternehmen haben sich grundsätzlich dazu bekannt, dass sie eine Verantwortung dafür tragen, in ihren Lieferketten existenzsichernde Einkommen und Löhne sicherzustellen. So hat zum Beispiel Rewe eine Leitlinie für existenzsichernde Einkommen und Löhne verfasst. Auch Aldi bekennt sich in einem Positionspapier zur eigenen Verantwortung.Doch bei der Beschreibung von Maßnahmen zur Verwirklichung existenzsichernder Einkommen und Löhne bleiben die Unternehmen vage oder verweisen nur auf einzelne Vorzeige-Pilotprojekte. In der Regel handelt es sich um Maßnahmen, um Produzent*innen zu unterstützen, ihre Produktivität zu steigern oder ihr Einkommen zu diversifizieren.Einen entscheidenden Aspekt aber blenden Unternehmen in ihren offiziellen Stellungnahmen grundsätzlich aus – ihre eigene Verantwortung, durch höhere Preise im Rohkaffeeeinkauf eine notwendige Voraussetzung für die Verwirklichung von existenzsichernden Löhnen und Einkommen zu schaffen. Keines der angefragten Unternehmen hat die Frage bejaht, ob es beabsichtigt, für höhere Rohkaffeepreise in den eigenen Lieferketten zu sorgen oder dies in Brancheninitiativen voranzubringen. Dabei zeigen Analysen, dass die Weltmarktpreise für Rohkaffee in der Regel viel zu niedrig sind, um existenzsichernde Einkommen und Löhne ermöglichen zu können.
Pflicht zur Zahlung existenzsichernder Preise
Fairtrade International hat ein Modell entwickelt, um die Preise für Rohkaffee zu berechnen, die für die Verwirklichung von existenzsichernden Einkommen und Löhnen nötig sind. Dafür werden die Produktionskosten und die Lebenshaltungskosten im jeweiligen Land ebenso berücksichtigt wie Werte für eine rentable Betriebsgröße und nachhaltige Erträge. Für Nicaragua, Peru, Äthiopien, Kolumbien, Indonesien, Honduras und Uganda hat Fairtrade International auf dieser Basis bereits Referenzpreise für existenzsichernde Einkommen berechnet. So liegt der aktuelle Referenzpreis für Nicaragua und Peru bei circa 2,50 US-Dollar pro Pfund. Der Börsenpreis für Rohkaffee aber schwankt stark und liegt zumeist weit unter den Referenzpreisen für existenzsichernde Einkommen: zum Beispiel bewegte sich der Preis 2021 zwischen 0,80 und 1,20 US-Dollar pro Pfund und 2023 zwischen circa 1,40 und 1,80 US-Dollar. Doch nicht einmal Fairtrade selbst garantiert bisher die Zahlung von Referenzpreisen für existenzsichernde Einkommen. Zwar hat Fairtrade im Jahr 2023 den Mindestpreis für Kaffee erhöht – dieser reicht aber in den meisten Ländern nicht an die bereits berechneten Referenzpreise heran. Der Preisdruck im Kaffeemarkt ist groß und auch bei Fairtrade besteht die Sorge, dass die Kund*innen – sowohl Unternehmen als auch die Kaffeetrinker*innen – nicht bereit seien, einen noch höheren Preis zu zahlen. Diese Sorge äußert auch der Deutsche Kaffeeverband, der zwar bestätigt, dass ein höherer Preis für die Produzent*innen notwendig sei, dass es aber schwierig sei, „dem Konsumenten die Notwendigkeit eines Preisaufschlags zu vermitteln, selbst wenn der Preisaufschlag mit ernsthaftem, nachhaltigem Engagement oder besserer Bezahlung der Bauern begründet ist“. Diese Sorgen um eine sinkende Nachfrage bei höheren Preisen verdeutlichen das Problem der (vermeintlichen) Freiwilligkeit. Weil sie befürchten, damit die eigene Wettbewerbsfähigkeit zu gefährden, erhöht kaum ein Unternehmen im Alleingang die Preise auf ein existenzsicherndes Niveau. Obwohl es für die Verwirklichung von existenzsichernden Löhne und Einkommen im Kaffeeanbau unbestreitbar notwendig ist, den Produzent*innen höhere Preise zu zahlen, fühlen sich die meisten Unternehmen dazu nicht verpflichtet. Damit faire Preise nicht nur in einem kleinen Nischenmarkt etabliert werden, braucht es also eine eindeutigere gesetzliche Regulierung.
Von Julia Sievers